Die gleichnamigen Bücher werden seit Jahren nicht mehr aufgelegt und sind bis heute, soweit ich sehe, auch digital nicht verfügbar. Gebrauchte Exemplare werden zu unattraktiven Preisen verkauft.
Dies ist ein von YouTube erstelltes Transkript, basierend auf einem Video, welches einen vorgelesenen Text der Geschichte enthält und zum Zeitpunkt der Transkription unter der Lizenz Creative Commons Attribution (BY) verfügbar war. Es sind daher Abweichungen von den ursprünglich veröffentlichten deutschen Texten dieser Geschichte möglich, zumal ich Rechtschreibung, Zeichensetzung und Gliederung nachgearbeitet habe.
Der Bär, der ein Bär bleiben wollte
Die Blätter fielen von den Bäumen. Die Wildgänse zogen in Scharen nach Süden. Der Bär spürte den Wind in seinem Pelz. Er war schon sehr müde. „Es riecht nach Schnee“, dachte er, und ging durch das raschelnde Laub zu seiner Lieblingshöhle. Und bald darauf lag er in dem warmen Unterschlupf und war eingeschlafen. Denn Bären brauchen einen Winterschlaf.
Draußen fegte der Wind durch den Wald. Es fing an zu regnen und eines Morgens lag Schnee auf den Bäumen. Das war der Winter. Davon merkte der Bär nichts.
Doch dann geschah etwas: Mit dem Winter kamen auch die Menschen. Sie hatten Pläne und Werkzeuge bei sich und hieben alle Bäume um: Baum um Baum um Baum. Die Menschen schafften Maschinen und Kräne heran und bauten eine Fabrik auf – mitten im Wald. Sie kamen auf Lastwägen durch die Einöde: Menschen, Männer, Arbeiter. Auf dem steinhart gefrorenen Boden sanken auch die schweren Bagger nicht mehr ein.
Im Frühling erwachte tief unter der Erde der Bär. Nach einem so langen Schlaf fällt das Aufstehen nicht leicht. Der Bär gähnte ein paar Mal und kroch dann zum Ausgang der Höhle. Das helle Licht blendete ihn. „Ich schlafe wohl noch“, dachte er, und rieb sich die Augen. Aber Nein: Er hatte richtig gesehen: Der Wald war verschwunden.
Erschrocken starrte der Bär die Fabrik an. Und während er noch starrte, kam bereits ein Fabrikwächter auf ihn zugelaufen. „Hei, du da, an die Arbeit!“, sagte der Wächter. Dem Bären schlug das Herz bis zum Hals. „Ich bitte um Entschuldigung“, sagte er, „aber ich bin ein Bär.“ „Ein Bär?“, schrie der Wächter, „dass ich nicht lache! Ein dreckiger Faulpelz bist du!“ Er war so wütend, dass er den Bären zum Personalchef führte.
„Ich bin ein Bär“, sagte der Bär sehr höflich, „das sehen Sie doch.“ „Was ich sehe, ist meine Sache!“, brüllte der Personalchef, „und ich sehe keinen Bären. Ich sehe einen schmutzigen, unrasierten Faulpelz.“ Und der Personalchef brachte den Bären zum Vizedirektor.
Der Vizedirektor hatte die Geschichte bereits gehört und sich furchtbar geärgert. Als der Bär das Zimmer betrat, saß der Vizedirektor hinter seinem Tisch und telefonierte mit dem Direktor. „Wir haben hier einen faulen Arbeiter“, sagte er. „Der Mann sagt, er sei ein Bär. Ausgerechnet ein Bär! Ich weiß, dass Ihre Zeit sehr kostbar ist, Herr Direktor, aber den unrasierten Faulpelz sollten Sie sich doch einmal ansehen.“
Der Direktor machte kurzen Prozess mit dem Bären. Er schrie nicht, er brüllte nicht, er schaute nur kurz von seiner Zeitung auf und sagte: „Ein dreckiges Element.“ „Element“, sagte er, um nicht auch Faulpelz sagen zu müssen. „Bringt ihn zum Herrn Präsidenten, dort wird er schon erwartet.“
Der Präsident war der mächtigste Mann in der Fabrik. Er verdiente mehr Geld als alle andern und er hatte das größte Büro. Aber in Wirklichkeit wurde er nur selten gebraucht. Oft langweilte er sich. Nun hörte er dem Bären ruhig zu. Er hatte ja Zeit genug und er war froh über die Abwechslung.
„So, so, Sie sind also ein Bär, wie?“ „Ach“, sagte der Bär, „endlich treffe ich einen Menschen, der mich versteht.“ „Nun“, sagte der Präsident, „das werden wir sehen. Wenn Sie wirklich ein Bär sind, müssen Sie mir das auch beweisen.“ „Beweisen?“, fragte der Bär. „Richtig“, sagte der Präsident, „echte Bären gibt es nämlich nur im Zoo und im Zirkus.“ Und nur, weil er Recht haben wollte, ließ er sich und den Bären in die nächste Stadt fahren. Dort gab es einen Zoo. Aber die Reise dorthin war lang und beschwerlich.
Die Bären im Zoo schüttelten den Kopf, als sie sahen, wie der fremde Bär aus dem Auto kletterte. „Nein“, sagten sie, „das ist kein richtiger Bär. Ein richtiger Bär fährt nicht in einem Auto herum. Ein richtiger Bär lebt hinter Gittern wie wir.“ „Oder in einem Zwinger“, sagte ein alter Kragenbär, der viele Jahre seines Lebens in einem Zwinger verbracht hatte.
„Falsch!“, rief unser Bär zornig, „ich bin ein Bär. Ich bin ein Bär!“ „Vor allen Dingen bist du sehr eigensinnig“, sagte der Präsident und lächelte. „Aber wir werden ja sehen, wer Recht hat. In der nächsten großen Stadt gibt es einen Zirkus, da fahren wir hin.“ Das taten sie auch, denn Zirkusbären gelten als sehr kluge Tiere, weil sie alles, was sie können, von den Menschen gelernt haben.
Die Zirkusbären betrachteten den fremden Bären lange. „Er sieht aus wie ein Bär“, sagten sie endlich. „Aber er ist kein Bär. Ein Bär sitzt nicht auf der Zuschauerbank. Ein Bär tanzt. Kannst du tanzen?“ „Nein“, sagte der Bär betrübt. „Seht ihr“, rief der kleinste Zirkusbär, „nicht einmal tanzen kann er. Er ist nichts als ein unrasierter Faulpelz in einem Pelzmantel!“ Da lachten alle, auch der Präsident.
Der Bär aber wusste sich nicht mehr zu helfen vor Kummer und Angst. „Ich weiß es doch“, dachte er auf der ganzen langen Rückfahrt, „ich weiß doch, dass ich ein Bär bin. Warum nur wissen es die andern nicht?“
Und als man ihm in der Fabrik ein Arbeitskleid brachte, wehrte er sich nicht mehr. Er rasierte sich, als man ihm befahl, sich zu rasieren. Dann ließ er sich einen Platz an der Maschine zuweisen. Der Fabrikwächter sagte ihm, was er zu tun habe. Und der Bär nickte, obschon er kein Wort verstand. Ratlos stand er vor dem großen Schaltpult. Die anderen Arbeiter schienen genau zu wissen, was man von ihnen verlangte. Der Bär sah sich verstohlen um und sah, wie sie auf verschiedene Knöpfe drückten.
Da kam auch der Fabrikwächter schon wieder zurück. Verzweifelt berührte der Bär eine Taste: nichts geschah. „Hei, du da!“, schrie der Wächter, „willst wohl endlich mit der Arbeit anfangen?“ Da drückte der Bär ganz fest auf die Taste. Die Maschine fing nicht an zu stöhnen und zu ächzen. Sie explodierte auch nicht. Nur ein rotes Licht leuchtete auf und erlosch wieder. Das Licht zeigte, dass man arbeitete.
So war der Bär zum Fabrikarbeiter geworden. Tag für Tag stand er nun an der Maschine, zusammen mit den anderen Arbeitern. Aprilglocken wuchsen auf der Wiese vor dem hohen Zaun und verblühten wieder. Die Sommerhitze dörrte das Gras aus. Und in den hellen Augustnächten lag der Bär oft lange wach. Dann kamen die schweren Gewitter. Und nach den Gewittern kam der Herbst.
In der Mittagspause schaute der Bär den Wildgänsen nach, die in langen Ketten über den Himmel zogen. Und der Fabrikwärter sagte zu ihm: „Du träumst wohl schon wieder, alter Landstreicher.“ Und wirklich: Je bunter sich die Bäume färbten, desto müder wurde der Bär. Je lustiger die Blätter im Herbstwind tanzten, desto müder wurde der Bär. „Es riecht nach Schnee“, dachte er, „und ich bin sehr müde.“
Am Morgen mussten ihn die anderen Arbeiter aus dem Bett zerren. Und immer öfter schlief er auch an der Maschine ein. Eines Tages kam der Fabrikwächter angerannt: „Du bringst die ganze Arbeit durcheinander!“, schrie er. „Einen solchen Faulpelz wie dich können wir hier nicht mehr brauchen. Mach, dass du wegkommst, du bist entlassen!“ Ungläubig starrte der Bär ihn an. „Entlassen?“, fragte er, „heißt das, ich kann gehen, wohin ich will, und niemand wird mich zurückhalten?“ „Am besten gehst du gleich jetzt!“, brüllte der Wächter, „und dass du dich nie mehr hier blicken lässt, verstanden?“ Das ließ sich der Bär nicht zweimal sagen. Er holte sein Bündel und machte sich auf den Weg.
Einen Tag lang wanderte er. Eine Nacht lang. Und noch einmal einen Tag. Und zwar auf dem Pannenstreifen der Autobahn, denn eine andere Straße gab es nicht. Er zählte die Wägen, die vorbeifuhren, aber in der Fabrik hatte er nur bis Fünf zählen gelernt. Auch schneite es immer stärker, und schließlich gab der Bär das Zählen auf.
Nass und durchfroren erreichte er in der Dämmerung des zweiten Tages das einzige Rasthaus weit und breit. Hinter dem Tisch im Empfangsraum stand ein Angestellter. Er hatte allerdings nichts zu tun, sah aber ungeheuer beschäftigt aus. Eine ganze Weile lang ließ er den Bären warten, bevor er ihn fragte, was er wünsche. „Ich bin sehr müde“, sagte der Bär höflich, „ich möchte ein Zimmer haben.“ „So, so, ein Zimmer?“, sagte der Angestellte und musterte den Bären. „Wir vermieten aber keine Zimmer an Arbeiter, und an Bären schon gar nicht.“ „Wie bitte?“, fragte der Bär. „Ich sagte: ‚Wir vermieten keine Zimmer an Arbeiter, und an Bären schon gar nicht.‘“ „Ich habe das Wort ‚Bär‘ verstanden“, sagte der Bär. „Sie glauben es also, dass ich ein Bär sein könnte?“ Der Angestellte wurde bleich und griff nach dem Telefon. Aber das war gar nicht nötig. Der Bär hatte sich schon umgedreht und sogar die Tür hinter sich zugemacht.
Langsam stapfte er nun durch den Schnee dem Walde zu. Er wusste eigentlich nicht so recht, was er da oben sollte, aber er ging und ging, bis er zu einer Höhle kam. „Ich muss über alles nachdenken“, dachte der Bär, und setzte sich vor die Höhle. „Wenn ich nur nicht so schrecklich müde wäre! Ich muss darüber nachdenken, wie es jetzt weitergehen soll mit mir“, dachte er und gähnte.
Lange saß er so. Starrte ins Leere. Hörte den Wind in den Bäumen. Ließ sich vom Schnee zudecken. „Ich glaube fast, ich habe irgendetwas Wichtiges vergessen“, dachte er. „Aber was?“
Nach einer Idee von Frank Tashlin (The Bear That Wasn’t, 1946). Video „Der Bär, der ein Bär bleiben wollte“ abgerufen am 14.03.2023 unter der CC BY 2.0.