Im Rückspiegel die Geschwindigkeit von herannahenden Autos korrekt einzuschätzen, ist nicht immer einfach: Reicht meine Beschleunigung noch, um auf der linken Spur zu überholen, ohne jemanden zu behindern? Je schneller ein Hintermann auf der linken Spur daherkommt, desto weniger Zeit bleibt, diese Entscheidung zu treffen. Und nicht nur das: Die Messergebnisse unserer menschlichen Sinnesorgane werden immer unpräziser, je schneller sich ein Objekt nähert. Und das gilt natürlich umso mehr bei zunehmender Dunkelheit, was für viele Autobahnfahrer dann außerdem zunehmende Geschwindigkeit bedeutet.
Diese 3 Faktoren gehen noch naiv davon aus, dass ein herannahender Raser überhaupt sichtbar ist. Doch das ist oft gar nicht der Fall: Wenn die Autobahn nicht kerzengerade ist, sieht man ein mit 200 km/h herannahendes Auto in der Regel nicht rechtzeitig – sondern erst dann, wenn man schon am Überholen ist. Schafft man es dann nicht mehr rechtzeitig nach rechts, macht man sich am durch helle Lichtsignale erhöhten Spritverbrauch des Bremsgeschädigten schuldig. Dasselbe gilt natürlich umso mehr, wenn der Herannahende zuerst noch ordnungsgemäß hinter einem anderen Auto auf der Mittelspur fährt und erst in Erscheinung tritt, nachdem er auf die linke Spur gewechselt hat und dann binnen Augenblicken an der Stoßstange klebt.
Es ist wieder einmal die ADAC Motorwelt (Ausgabe 11/2017), die auf diese grundsätzliche Problematik von hochmotorisierten Rennwagen und sehr schnellen Autofahrern nicht eingehen kann. Wenn „Sebastian Kaiser“ mit seiner Oberklasse-Limousine und 200 km/h daherkommt, kommt bei ihm „Ärger über Linksspur-Blockierer“ auf – als Versicherungs-Außendienstler hat er es ja eilig!
Was soll man aus einem solchen Artikel lernen, wenn man Fahrer eines durchschnittlichen Autos (unter 30.000 Euro Neupreis) ist, dessen Beschleunigung von 90 auf 120 länger als 5 Sekunden dauert? Oder als Fahrer eines Autos, das diese Leistung nur bei einer Zuladung von 100 Kilo bringt, nicht aber mit Partner, Kindern und Gepäck? Wie sollten diese Fahrer überhaupt noch einen LKW überholen, ohne Gefahr zu laufen, einen doppelt so schnellen Rennfahrer zum Heben seines Bleifußes zu nötigen?
„Ich beobachte immer wieder Überholvorgänge, bei denen die Fahrer sich und andere gefährden“, zitiert der ADAC-Artikel einen weiteren Außendienstler. Kann es sein, dass diese Art von Beobachtung umso besser gelingt, je schneller man unterwegs ist? Und man ab 200 km/h sogar garantiert einen Treffer landet? Wäre es da nicht eine diskutable Alternative zu politisch aufgeblähten Tempolimits, eine Autobahn-Zulassung zukünftig überhaupt nur noch ab einer bestimmten Beschleunigungsleistung zu bekommen? Wie sonst sollte man denn diesen Widerspruch zwischen naiver Straßenverkehrsordnung und ausufernder Rennsport-Motorisierung auflösen?