Eben haben die Glocken der Ulrichskirche und die einer anderen Kirche hier im Ort dreimal geschlagen. Es ist 15 Uhr. Zählte man die Stunden seit Sonnenaufgang, wäre es „um die neunte Stunde“ (Mt 27,46) – die Todesstunde Jesu Christi. Ich stehe etwas abseits und schaue mich um. Langsam kommt doch der Frühling, die Sonne erhellt den Hochnebel und ich spüre ihre Wärme, aber auch die noch kalte Luft des vergangenen Winters. Es ist Freitag, der 30. März – damals in Jerusalem war es wohl der 14. Nissan.
Ein Schild mit seiner Schuld wird über Jesus ans Kreuz geheftet. Und Paulus spielt später auf dessen Symbolträchtigkeit an: „Er hat die gegen uns gerichtete Schuldschrift ausgelöscht, indem er sie ans Kreuz heftete“ (Kol 2,14). Und auch andere biblische Autoren bezeugen in ebenso vielfältiger wie glaubwürdiger Weise diese eine Sache: Dieser Mensch ist um unseretwillen gestorben. Er hat unsere Sünde und Strafe auf sich genommen. Jesus Christus hat unser aller Tod stellvertretend für uns erlitten. Darum werden uns unsere Sünden vor Gott nicht mehr angerechnet, und wir können in Ewigkeit ungetrübtes Leben mit ihm haben.
Die Glaubwürdigkeit dieser Aussagen habe ich vor einigen Jahren erkannt, und ich vertraue seither darauf, dass sie wahr sind. Schön, dass ich daran bisher auch keinen Zweifel habe. Dennoch stehe ich an keinem anderen Tag rat- und fassungsloser in Zeit und Raum als am Karfreitag: Wie ist es möglich, dass auf einem Hügel bei Jerusalem meine Schuld getilgt wurde? Wie kann es sein, dass meine Ewigkeit im Frieden bei Gott „um die neunte Stunde“ ermöglicht wurde? Dass einem lokal und zeitlich so begrenzten Ereignis eine Bedeutung von unvorstellbarer Tragweite gegeben wurde und wird? Die schiere Zeit- und Räumlichkeit dieses Geschehens stehen genau quer zu den ewigen Wahrheiten, die ich dahinter vermute und zu erfassen suche.
Fraglos geht es hier doch um die uralte Frage nach Gott und der Welt: Wie gehört beides zusammen? Wie kann es „das Leben in Fülle“ (Joh 10,10) in den Banden von Raum und Zeit geben? Wie kann Jesus zugleich Gott und Mensch sein? Wie kann er Psalm 22 beten?
Daran erinnert mich dieser dreimalige Glockenschlag am heutigen Karfreitag: Der christliche Glaube ist im Wesentlichen voller Paradoxien, und der menschliche Verstand so voller Unvermögen. Wie ich hier in die Weite schaue, so erhoffe ich mir am Horizont endlich ein Erkennen, das nicht mehr nur „durch einen Spiegel wie im Rätsel“ funktioniert, nicht mehr nur „stückweise“, sondern wahrhaft göttlich: „Dann aber werdet ihr erkennen, wie ihr erkannt seid.“ (1Kor 13,12) Wohl dem Menschen, der diese Erkenntnis erlangt, die ihm selbst, Gott und der Welt eigentlich schon immer entspricht.
Solange ich aber noch hier auf dem irdischen Weg bin, erinnert mich der Glockenschlag um 15 Uhr immer auch daran, dass meine verstandesmäßige Erkenntnis der göttlichen Dinge nicht zuerst auf umfassender philosophisch-theologischer Reflexion basiert, sondern vielmehr auf dem glaubwürdigen Zeugnis der alt- und vor allem neutestamentlichen Autoren. Hätten nicht Jesus und diese Menschen die Glaubwürdigkeit ihres Glaubens wiederum durch ihre Taten und selbst ihr Sterben bestärkt – ich würde ihnen wahrscheinlich nicht glauben.