Heute hörte ich zum ersten Mal bewusst eine Lesung aus der Lutherbibel 2017. Es war der Lobgesang des Zacharias im Adventsgottesdienst einer landeskirchlichen Gemeinde. Was man im Vorfeld über die aktuellste Revision der Lutherbibel erfahren konnte, hatte mich bereits verunsichert. Was ich nun jedoch zu hören bekam, machte mich ernsthaft betroffen – obwohl der Text eigentlich ein Juwel des Neuen Testaments ist. Lukas 1, 67–79:
Gelobt sei der Herr, der Gott Israels!
Schön. Amen!
Denn er hat besucht und erlöst sein Volk und hat uns aufgerichtet ein Horn des Heils im Hause seines Dieners David – wie er vorzeiten geredet hat durch den Mund seiner heiligen Propheten –, dass er uns errettete von unsern Feinden und aus der Hand aller, die uns hassen, und Barmherzigkeit erzeigte unsern Vätern und gedächte an seinen heiligen Bund, an den Eid, den er geschworen hat unserm Vater Abraham, uns zu geben, dass wir, erlöst aus der Hand der Feinde, ihm dienten ohne Furcht unser Leben lang in Heiligkeit und Gerechtigkeit vor seinen Augen.
Mark Twain lächelt: Selbst wenn man gedanklich minutenlang am Horn des Heils hängenbleibt, verpasst man trotzdem nicht den nächsten Satz. Grammatisch und orthografisch vollkommen korrekt, dabei aber vollkommen vorbei an Verständigung und Kommunikation. Meine automatische Rechtschreibprüfung scheitert zudem an erzeigte und gedächte – sie beherrscht leider nur die Gegenwartssprache.
Und du, Kindlein, wirst Prophet des Höchsten heißen.
Ein funktionierender deutscher Satz!
Denn du wirst dem Herrn vorangehen, dass du seinen Weg bereitest und Erkenntnis des Heils gebest seinem Volk in der Vergebung ihrer Sünden, durch die herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes, durch die uns besuchen wird das aufgehende Licht aus der Höhe, auf dass es erscheine denen, die sitzen in Finsternis und Schatten des Todes, und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens.
Die automatische Grammatikprüfung meines Browsers traf mittlerweile dieselbe Entscheidung wie die Zuhörer, die versucht hatten, der Lesung zu folgen: Sie hat abgeschaltet.
Selbst von einem Profi gelesen, der die unsäglich komplexe und doppeldeutige Syntax melodiös bewältigen kann, bleibt von dieser Lesung nicht viel mehr als eben komplexe Melodie – denn verändern kann den Text auch der beste Lektor nicht. Das gilt ebenso für das Vokabular: Horn aufrichten? Füße richten? Gedächte? Erzeigen? Vorzeiten? Schön zu hören, aber kaum zu begreifen. Liest statt des Profis der übliche Amateur, entfallen sowohl das Begreifen als auch das Schön zu hören.
Schauen wir dann wenigstens einmal kurz weg von Kulturbürgern und Theologen, zeigt die Wirklichkeit ihr wahres Gesicht: Der Konfirmand, der Flüchtling, der kirchenferne Kleinbürger, bald all jene, die keine Geisteswissenschaft studiert haben – sie stolpern doch schon bei den unausweichlichen Begriffen des Christentums: Bund, Heil, Heiligkeit, Sünde, Erkenntnis, Vergebung, Barmherzigkeit.
Dass diese Menschen nicht aufschreien, wenn die professionell verschlüsselten Texte an ihnen vorbeigehen, weil sie es von der Kirche nicht anders gewohnt sind, ist kein Trost. Es ist eine Schande! Eine derartige Übersetzung geht nämlich ausgerechnet an denjenigen vorbei, bei denen Jesus stehengeblieben wäre. Schon aus diesem Grund tut sich eine Lutherbibel 2017 schwer, den biblischen Inhalten gerecht zu werden.
Eine Übersetzung, die aufgrund ihrer fremden Sprache wiederum eine Übersetzung braucht, bevor man überhaupt zur Auslegung vordringen kann, sollte für evangelischen Gottesdienst weder verwendet noch empfohlen werden. Sie verzerrt das Anliegen von Evangelium und Reformation. Sie stellt Kulturpflege über Verkündigung, Kulturbürger über Zaungäste, Klang über Begriff, Form über Inhalt. Weder Lukas noch Luther hätten ihren Texten dieses Schicksal gewünscht.